1. Solidarität
Es gibt viele Beispiele für ‚wilde Streiks‘ in den 70er Jahren. Eines davon ist der Kampf der migrantischen Frauen bei Pierburg in Neuss, der damals große Öffentlichkeit hatte und Solidarität erzeugte. Noch aufregender für uns waren die Betriebsbesetzungen, bei denen die Weiterführung der Produktion durch die Belegschaft – in Selbstverwaltung – zumindest angedacht oder sogar praktisch durchgeführt wurde. In Deutschland schien das erstmalig auf beim Kampf der Zementarbeiter in Erwitte, in Frankreich sorgte die Belegschaft der Uhrenfabrik Lip für europaweites Aufsehen, in Belgien besetzten die Arbeiterinnen der Textilfabrik Salik ihren Betrieb und produzierten weiter.
Wo immer es möglich war, übten wir praktische Solidarität, organisierten Info-Veranstaltungen, produzierten die Flyer und Informationsbroschüren dazu und versuchten, Produkte solcher Betriebe bei uns zu verkaufen.
Nun unterstützt zwar der Verkauf von Zementsäckchen für 1 DM den Kampf der Erwitte-Arbeiter moralisch, ebenso wie der Verkauf von ein paar Lip-Uhren die dortige Belegschaft. Aber natürlich hilft das nicht wirklich dabei, die Produktion in diesen Betrieben aufrechtzuerhalten. Schmerzlich erfahren haben wir das bei den Salik-Frauen. Da standen wir zwar schon frühzeitig ‚auf der Matte‘, um zu helfen, aber der autonome Betrieb war trotzdem schon pleite. Und unseren VW-Bus mit Jeans für 10.000 DM vollzupacken, blieb damit auch nur eine solidarische Aktion.
2. Okzitanischer Wein aus dem Languedoc
In Okzitanien, Frankreichs größtem Weinanbaugebiet, stoßen zwei Konfliktfelder aufeinander. Das ist einerseits die – innerfranzösische – Unterdrückung der regionalen Kultur (und Sprache), andererseits der Generalplan für ein Europa, in dem die landwirtschaftliche Produktion hauptsächlich in den südlichen (Mittelmeer-)Ländern und die industrielle Produktion vorwiegend im Norden stattfinden soll. Okzitanien wird in diesem Gesamtplan ein riesiges Urlaubsgebiet, große Flächen werden dazu enteignet, die verbleibenden Winzer sollen über ökonomischen Druck gezwungen werden, statt Qualitätswein leichte Weine zu produzieren, dazu bestimmt, mit den hochprozentigen und billiger zu produzierenden Weinen aus Spanien verschnitten zu werden.
Die Gegenwehr der Betroffenen führt zum Weinkrieg 1975/76 – die Region ist im Aufruhr.
In dieser Situation entschließen sich zwei Genossen aus Neu-Isenburg, einem befreundeten Winzer konkret zu helfen. Sie bewegen ihn dazu, seinen Wein – zuvor nur in Fässern direkt an die Winzergenossenschaft geliefert – selbst auf Flaschen zu ziehen und unter eigenem Namen zu vermarkten. Die Weinmarke ‚Lo Bartas‘ entsteht. Der Vertrieb erfolgt von Neu-Isenburg aus über den ‚Verein zur Förderung der Deutsch-Okzitanischen Freundschaft e.V.‘ bzw. der für den Vertriebszweck ausgegründeten Vinoc GmbH‘, aus dem bald ein loses Netz hauptsächlich von Biolädchen und Buchhandlungen hervorgeht, in dem ‚Lo Bartas‘ vertrieben wird, natürlich immer in Verbindung mit Infomaterial und Veranstaltungen, mit denen über die Probleme der Region informiert wird.
Ein echter ‚Bringer‘
Wieder sind wir Feuer und Flamme und treten diesem Netz bei. Den Wein verkaufen wir in unserem Café und in unserem Laden – und machen eine verblüffende Erfahrung. Anfänglich hatten wir nur eine VW-Bus-Ladung ‚Lo Bartas‘ aus Neu-Isenburg geholt (und damit unsere Gemeinschaftskasse sehr belastet, weil wir die Hälfte selbst getrunken haben). Im nächsten Schritt erhielten wir eine Beiladung von 4 Tonnen Wein. Danach war es die Hälfte des LKW mit etwa 12 Tonnen. Und schließlich der erste ‚eigene‘ komplette LKW mit 25 Tonnen, also fast 30.000 Flaschen. Die waren innerhalb von nur 8 Wochen verkauft. Ein Hammer! Innerhalb kürzester Zeit waren wir ohne große Mühe zum größten Abnehmer im Vinoc-Netz geworden. Und das lag am Wein selbst, der einfach saugut war – und dabei mit einem Verkaufspreis von 3,80 DM pro Flasche ausgesprochen günstig.
Ein ‚vernünftig‘ denkender Betrieb hätte das Produkt nun gehütet, die Bezugsquelle verborgen und das Weingeschäft weiter ausgebaut. Wir kamen – ‚unvernünftig‘ – auf eine ganz andere Idee: könnte dieses Produkt vielleicht die ökonomische Basis werden für ein Vertriebsnetz, über das auch die – sehr viel schwerer verkäuflichen – Produkte aus besetzten Betrieben verkauft werden könnten? Lag hier vielleicht die Lösung für die Problematik, solche Betriebe nicht nur moralisch zu unterstützen, sondern unmittelbar praktisch über den Verkauf ihrer Produkte? Die POVO-Idee begann, Gestalt anzunehmen.
3. POVO – die politisch offensive Vertriebsorganisation
‚POVO‘ heißt portugiesisch ‚Volk‘, was für uns die Titelfindung für das Projekt (und die nebenstehende Broschüre) noch sinnvoller gemacht hat. Gemeint ist aber der Aufruf zu einer politisch offensiven Vertriebsorganisation. Kriegen wir ein verlässliches Netz von Initiativen auf die Beine, die mit Gründung eigener Verkaufsstellen dafür sorgen, dass die Produkte aus besetzten, von der Belegschaft übernommenen und in Selbstverwaltung weitergeführten Betriebe einen Absatzmarkt finden, der das längerfristige Überleben (zumindest im Übergang) absichern kann?
Schaffen wir damit vielleicht eine tragfähige Verbindung und Beziehung zwischen der Arbeiter- und der ‚Alternativ’bewegung?
In unserer POVO-Broschüre haben wir unsere Gedanken dazu beschrieben und den Aufbau eines solchen Netzes gestartet.
Hoffnungsvoller Start …
Mit der POVO-Idee fanden wir überraschend viel Resonanz. Spontan bildeten sich Gruppen, die beim Aufbau eines solchen Verteilernetzes mitmachen wollten. Die Kontakte zum Sozialistischen Büro intensivierten sich, mit Vertrauensleuten der Post-Gewerkschaft wurden konkrete öffentliche Verkaufs- und Informationsaktionen diskutiert und wir kamen in intensiven Kontakt zum Haus der Gewerkschaftsjugend in Oberursel. Also eigentlich alles so, wie wir uns das vorgestellt hatten.
… und herber Rückschlag …
Das wichtigste Produkt und ökonomische Basis des Projekts war der okzitanische Wein. Dessen Vertrieb sollte die Wirtschaftlichkeit der POVO-Läden so weit absichern, dass darüber die sehr viel schwieriger zu vermarktenden Produkte aus selbstverwalteten Betrieben quasi subventioniert werden könnte.
Genau an diesem Punkt hatten wir aber – sozusagen – die ‚Rechnung ohne den Wirt‘ gemacht. Innerhalb kürzester Zeit waren wir innerhalb des VINOC-Verteilernetzes der größte Abnehmer und dafür gefeiert worden. Kaum hatten wir aber den Plan kundgetan, den okzitanischen Wein in die POVO-Kampagne einzubeziehen, stießen wir völlig unerwartet auf vehemente Ablehnung. Völlig perplex mussten wir miterleben, wie die Lieferung unserer Weinbestellung sich immer weiter verzögerte: sie war von der Vinoc ‚umdirigiert‘ worden, ohne uns davon in Kenntnis zu setzen. Als der Druck unserer Kunden, die auf ihren Wein warteten, immer größer wurden, sind wir mit einer Übersetzerin nach Okzitanien gefahren, um die vermuteten Lieferprobleme mit den Winzern direkt zu besprechen. Dort erfuhren wir, dass genügend Wein vorhanden war, auf Weisung der Vinoc aber nicht an uns geliefert werden sollte.
… bis zum Boykott
Der Versuch, die Dinge beim nächsten Verteilertreffen der Vinoc zu besprechen, brachte nicht nur keine Verständigung, sondern endete mit der klaren Ansage, dass die ASH ab sofort nicht mehr beliefert werde. Wir wurden boykottiert.
In der nächsten Ausgabe unserer ‚BASIS‘ haben wir diese Entwicklung beschrieben und unsere Enttäuschung zum Ausdruck gebracht. Für eine Verständigung war es – trotz Unterstützung durch andere Verteiler – zu spät.
So starb eine gutgemeinte und möglicherweise erfolgreiche Initiative, bevor sie wirklich starten konnte. Für den Aufbau eines alternativen eigenen Lieferantennetzes fehlte uns – angesichts unserer sonstigen Belastungen – nicht nur die Kraft, sondern auch der Wille: Weder wollten wir einen Konkurrenzkampf mit der Vinoc, noch riskieren, die okzitanischen Winzer zu spalten.
In der Frankfurter Sponti-Szene festigte sich der Ruf der ASH als einer Dampfwalze, die – ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten kleinerer Projekte – alles überrollte, was links und rechts des Weges in die Quere kam.
4. Die ‚BASIS‘ – Zeitschrift für Selbstverwaltung
1980 startete unser neues Zeitungsprojekt. Ganz im Sinne unserer damals intensiv geführten Diskussion wurde die WWA (‚wir wollen´s anders‘) ersetzt durch die BASIS. Betriebe ab sofort in Selbstverwaltung war der Titel der ersten Ausgabe und verkündete den Anspruch, mit unseren Diskussionen und Erfahrungen für eine Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Lebens- und Arbeitswelt relevant zu sein.
Der ersten Ausgabe liegt entsprechend ein ‚Manifest‘ bei, in dem wir die Grundregeln für unsere Vorstellung von Selbstverwaltung definieren:
– Gleiches Entscheidungsrecht für alle Arbeiter!
– Kein Entscheidungsrecht des Einzelnen über Produktionsmittel!
– Entscheidungen über Diskussion und nicht durch Abstimmung!
– Gleiche Informationsmöglichkeit für alle!
– Keine Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit!
– Recht auf Wahl der Tätigkeit und Möglichkeit zur Rotation zwischen den Arbeitsbereichen!
– Gleicher Lohn für alle bzw. je nach den unterschiedlichen Bedürfnissen!
– Gleiche Wertung unterschiedlicher Arbeiten!
– Gleichstellung der Geschlechter!
– Aufbau kollektiver Arbeits- und Lebensformen!
– Menschliche, sinnvolle Arbeit und Produkte!
Was ist neu bei der BASIS?
Im Unterschied zur eher diffusen ‚Wir wollen´s anders‘ (WWA) konzentriert sich die BASIS thematisch mit einer eindeutigen politischen Aussage auf die betriebliche Selbstverwaltung. Sie soll einerseits die Diskussionen der Selbstverwaltungs’bewegung‘ in die normale Arbeitswelt vermitteln, andererseits die ‚Bewegung‘ strukturieren und weitertreiben.
Die redaktionelle Arbeit ist auch nicht mehr nur Sache der ASH, sondern wird in Rotation zwischen den drei Gruppen gemacht, die sich zu dieser Zeit am weitesten entwickelt haben. Das ist neben der ASH die Schäfereigenossenshaft Finkhof im Allgäu und die IGEF (Verein für integrale Gesellschaftsforschung) in Wien.
Die BASIS erscheint zweimonatlich in 3000er Auflage und wird über den linken Buchhandel vertrieben. Sie trägt ganz erheblich zur weiteren Vernetzung der aktiven Gruppen der ‚Bewegung‘ bei. Leider zerbricht die IGEF an ihrem Anspruch, auch die Zweierbeziehungen zu ‚knacken‘ und die Sexualität neu zu erfinden. ASH und Finkhof alleine schaffen es nicht, die Zeitschrift weiter fortzuführen. Im Februar 1981 erscheint, in verändertem Erscheinungsbild und mit auf 2000 Exemplare reduzierter Auflage, die 5. und letzte Ausgabe, inhaltlich die beste und mit 76 Seiten auch die umfangreichste. Danach ist erst mal Schluss.
Die entstandenen Kontakte führen aber schon im gleichen Jahr zur wesentlich breiter aufgestellten ‚Betriebszeitung‘ in der TAZ.
Neue Vertriebsstruktur
Der Vertrieb der BASIS (und unseres ebenfalls gerade fertiggestellten Buchs ‚Anders Leben – Anders Arbeiten‘ über die ASH-Jahre bis zum Einzug in die Krebsmühle) geschieht nicht mehr sporadisch und zufällig auf Veranstaltungen, sondern wird organisiert über eine Vielzahl von linken Buchläden.
Dieses Vertriebsnetz haben wir mit Rundreisen durch die Republik und ‚Vertreter’besuchen bei den Buchläden vor Ort hergestellt.